Fitness-Armbänder oder „Activity Tracker“ sind ein Trend, der zwar nicht mehr neu ist, der aber anhält. Immer mehr Menschen tragen die mehr oder minder schicken Accessoires von Jawbone, Garmin, Polar Loop und wie sie heißen. Letztendlich muss wohl auch die Apple Watch zum Teil mit in diese Kategorie gezählt werden.
Pulsschlag, Schritte, Höhenmeter, Kalorien und sogar das Schlafverhalten werden gemessen und ausgewertet. Dass dies auf den Servern der jeweiligen Anbieter geschieht, scheint wenige Nutzer zu stören. „Sind doch nur Schritte und Puls, nichts Wichtiges“ sagte mir einmal ein Klient. Das man aus den Daten weit mehr herausholen kann, ist dabei aber offensichtlich. Oder was glaubst du lässt sich daraus schließen, wenn Mittwochabend um 23 Uhr dein Puls hochgeht?
Tatsächlich sind intimere Daten, die zum Beispiel deine Sexualität betreffen, längst im Auge der Anbieter. Apples iOS 9 beispielsweise wurde in der Kategorie „Health“ also „Gesundheit“ um die Unterkategorie „Reproductive Health“ also „Fortpflanzungsgesundheit“ erweitert. Neben Fruchtbarkeits-Apps sind auch hier „Performance Apps“ hoch im Kurs. Tatsächlich gibt es bereits heute einen Anbieter eines sogenannten „Cock-Rings“, der Schnelligkeit, Ausdauer, Kraft der Stöße und Kalorienverbrauch beim Liebesakt per Bluetooth an das Smartphone des Trägers übermittelt. Und es kommt noch besser: Das App gibt dir darüber hinaus Tipps, wie du dein Liebesleben verbessern kannst. Super oder? Statt „Runtastischer“ Aktivitäten bekommen wir in Zukunft vielleicht Statusmeldungen über dein Liebesleben bei Facebook. Viel privater wird es wohl nicht. Hier findest du einen N24 Artikel zu diesem Thema.
Wie du dir vielleicht denken kannst, geht es mir hier aber nicht so sehr um Datensicherheit und die völlige Aufgabe der Privatsphäre. In diesem Artikel möchte ich einen weiteren und ebenso erschreckenden Aspekt ansprechen: Den Verlust des Gefühls für unseren Körper.
Pulsuhren, Fitnessarmbänder und all diese Geräte sammeln Daten und gleichen Sie mit gewissen Werten ab, um unsere Leistung zu bewerten. Der Puls muss bei der und der Übung in diesem Bereich sein, täglich solltest du soundsoviele Kalorien verbrauchen und so weiter. Was dabei jedoch schnell vergessen wird: Bei diesen Zahlen handelt es sich um Durchschnittswerte.
Durchschnittswerte haben es aber nun einmal an sich, dass sie nicht auf jeden passen. Welcher Mann in Deutschland ist schon exakt 180,2 cm groß, welche Frau 165 cm mit Körbchen 80 C und wer verdient im Jahr genau 41.000 Euro Brutto? Die meisten Menschen liegen entweder etwas darüber oder darunter und das ist auch gut so. Im Grunde gilt das auch für Pulswerte und andere Durchschnittswerte, die den Algorithmen der Fitnessarmbänder hinterliegen. Oder nehmen wir den oft herangezogenen Body-Mass-Index BMI. Mit 180cm und 83 Kilo ist man bereits leicht übergewichtig. Das ist problematisch, denn was bei einem sehr unsportlichen Menschen vielleicht stimmt, kann bei einem austrainierten Beweger mit etwas mehr Muskelmasse bereits komplett falsch sein. Zahlenwerte sind also selten absolut und müssen in den richtigen Kontext gebracht werden. Das ist aber kaum der Fall.
Während der Pulswert von XY für den einen genau richtig ist, kann er für den anderen bei derselben Aktivität etwas zu hoch oder zu niedrig sein. Wenn du dich aber am Zahlenwerk deines elektronischen Helfers orientierst, wirst du wahrscheinlich nie herausfinden was dein optimaler Wert ist.
All diese Vorgaben verhindern, dass wir selbst in uns herein spüren und ein Gefühl für unser Optimum finden. Idealerweise merkst du selbst wann du dich in deinem optimalen Bereich befindest oder ob du „überpaced“. Eine Fähigkeit, die Generationen vor uns noch wie selbstverständlich hatten, denn da konnte man noch nicht auf sein Fitnessarmband schauen. Statt uns zu spüren, vergleichen wir Zahlenwerte. Der Fluch des Controllings hat auch in unser Privatleben Einzug gehalten.
Die Perversion lässt sich aber in den Geräten finden, die unsere Sexualität messen. Statt den Akt selbst zu genießen und uns mit unserem Partner auszutauschen was der andere sich wünscht und was das Erlebnis noch besser machen könnte, findet die eigentliche Befriedigung jetzt danach statt, wenn wir in unsere Statistiken schauen und vielleicht eine neue Bestzeit hingelegt haben. Vorschläge für neue Stellungen kommen dann gleich von der App. Irgendwie krank.
Diese Entwicklung steigert aber im Grunde nur das, was ich bereits seit Jahren bei vielen Klienten erlebe. Immer weniger Menschen können sich selbst wirklich spüren, haben Zugang zu ihrem Bewegen und sind in der Lage, sich selbst zu helfen. Stattdessen lassen wir uns von Ärzten und Experten sagen was mit uns los ist, was wir tun müssen und was uns gut tut. Gerade in Bezug auf körperliche Beschwerden, die durch Dysbalancen, hohen Muskeltonus oder falsche Bewegungsmuster hervorgerufen werden, ist die Lösung oft so einfach. Ohne Gespür für den eigenen Körper aber gleichzeitig so weit entfernt.
In der Welt der Faszienfitness, Fitness und der Bewegungskunst gibt es eine Königsdisziplin, die allerdings die Wenigsten im vollen Umfang beherrschen: Das Räkeln! Schon mal die Arme in den Himmel gereckt und dich gestreckt? Woher genau wusstest du, wie man das macht? Wahrscheinlich hast du es intuitiv gemacht und bist einem inneren Bewegungsdrang gefolgt. Unser Körper sagt uns meist selbst was er braucht – wenn wir denn richtig hinhören.
Pulsuhren, Fitnessarmbänder und Bluetooth-Cockringe helfen uns dabei allerdings nicht im Geringsten weiter. Wenn du irgendeiner Form der ganzheitlichen Körperertüchtigung nachgehst wie Taichi, Yoga, Chi-Gong, Feldenkrais, Hanna Somatics oder eben ES, dann weißt du wovon ich spreche. Vielfach wirkt das Bewegen unserer Mitmenschen auf uns hölzern und unbeholfen. Und tatsächlich ist es das auch. Dabei bewegen wir uns nicht besser sondern normal, während viele Menschen weit hinter ihren Möglichkeiten zurück bleiben. Vielleicht ist es langsam an der Zeit, diese Möglichkeiten wieder selbst zu nutzen. Ohne App.
Also, was ist mit dir?
Zählst du schon oder fühlst du noch?