Im Übergang zum Jahr 2017 durfte ich mal wieder einen Artikel zum Thema Fersengang vs. Vorfußgang lesen, der in eine Kerbe schlägt, die mir besonders bei Kollegen sehr häufig begegnet: Die absolute Hörigkeit gegenüber Studien.
Titel des Artikels „Der Ballengang ist nicht die natürlich präferierte Gangart des Menschen“. Da ich mich irgendwie auch in der Literaturangabe finde, musste ich natürlich einmal reinschauen :-).
Auch wenn der wirklich nette Kollege es im persönlichen Austausch etwas relativiert (hier), liest sich der Artikel so, als wäre der Ballengang nicht existent und sogar schädlich. Als Beweis werden vermeintliche Probleme wie Hohlfuß und verkürzte Waden bei Seminarteilnehmern, die vom Ballengang kommen, angeführt und eine Reihe von Studien zitiert, die das Gehen über die Ferse als „energiesparender“ deklarieren.
Zunächst einmal wundert es mich, dass ich Klienten begegne, die einen wunderbaren Hohlfuß, verkürzte Waden und kurze Beinbeuger besitzen, vom Ballengang noch nie gehört haben und über die Ferse „rollen“. Ob diese Symptome nun ausschließlich vom Ballengang herrühren, wage ich einfach einmal zu bezweifeln zumal auch der Hohlfuß an sich sicher weiter verbreitet ist als das Vorfußgehen in der modernen beschuhten Welt. Irgendwas passt da scheinbar nicht zusammen.
Darüber hinaus wird im Artikel angeführt, dass sich der Ballengang bei vielen Menschen nicht „automatisch“ einstellt, wenn man barfuß geht und dieses Muster erst wieder neu erlernt werden muss bzw. zum Teil Jahre dauert bis das Muster wieder automatisiert ist. Mich dagegen wundert es in diesem Kontext gleichermaßen warum es notwendig ist, den Menschen, die ohnehin bereits über die Ferse gehen, Seminare anzubieten, in denen sie lernen richtig über die Ferse zu gehen. Irgendwie seltsam, denn dieses Muster ist doch bereits vorhanden, da fragt es sich, warum etwas so „natürliches“ dann relativ wissenschaftlich und komplex gelehrt und gelernt werden muss, um es richtig zu machen. Müsste sich das denn nicht auch ganz von selbst einstellen? Andersherum könnte ich argumentieren, dass Klienten, die ich barfuß querfeldein in den Wald schicke, ziemlich automatisch und ohne große Erklärung auf den Vorfußgang umstellen. Ziemlich seltsam für ein Muster, das ja scheinbar nicht die „natürlich präferierte“ Bewegungsart ist. Und das führt auch schon zum nächsten Punkt: Die lieben Studien.
Als ich vor über 10 Jahren mit dem Vorfußgehen anfing, war auch das Laufen über den Vorfuß wissenschaftlich noch ziemlich verpönt. Exoten wie ein Dr. Strunz wurden damals belächelt und für bekloppt erklärt. Schließlich belegten auch damals schon Studien, dass das „abrollen“ über die Ferse deutlich energieeffizient sei. Auch beim Laufen. Eben diese Studien werden nun angeführt, wenn es darum geht zu belegen, dass aus diesem Grunde das Gehen über die Ferse die „natürlich präferierte“ Bewegungsart des Menschen sei. Interessant ist aber folgende Frage: Was wurde denn da miteinander verglichen? Und in welchem Kontext? Wer hat denn den Vorfußgang für die Studie demonstriert? Ein Fersengänger? Wenn es doch angeblich das Vorfußmuster nicht gibt, dann muss es ja so gewesen sein und man könnte argumentieren, dass alleine der kognitive Prozess ein neues Bewegungsmuster vorzuführen in Kombination mit einer komplett anderen inter- und intramuskulären Koordination für diesen neuen Prozess schon zu einem Mehrverbrauch an Energie führt. Wurde denn überhaupt wirklich Vorfuß mit Ferse verglichen oder wurde nur das Muster „Ferse“ untersucht und versucht herzuleiten, warum dieses Muster gut sein könnte? Weiter muss man fragen auf welchem Untergrund diese Studien und Messungen überhaupt durchgeführt wurden? Auf einem Laufband? In einem Labor? Aber entsprich dieser Untergrund wirklich der Realität? Auch der Autor gibt im persönlichen Austausch zu, dass in der Natur letztendlich Sicherheit vor Energiesparen gelte (hier) und man auf sehr unwegsamen mit Ästen und Steinchen gespickten Untergrund das Gehen oder Tasten über den Vorfuß wahrscheinlich zu bevorzugen sei. Das jedoch entspricht viel eher dem natürlichen Untergrund, dem sich der Bewegungsapparat Mensch ausgesetzt sah bevor er sich mit Schuhen und Air-Systemen künstliche Polster verschaffte mit denen auch das Rollen über die Ferse auf jedem Untergrund machbar ist. Aber wir brauchen überhaupt nicht so weit zu gehen, denn selbst beim Gang über ein Kopfsteinpflaster in einem beliebigen historischen Stadtkern in Deutschland in Barfußschuhen oder ganz unten ohne wird den Spaß an der Ferse etwas dämpfen. Auch das lustige Balancieren über einen Baumstamm oder ähnliche Dinge erledigen wir wie von selbst über den Vorfuß.
Interessanterweise wird dem „Hörtest“, bei dem man das Auftreten der Ferse bei verschlossenen Ohren als dumpfes „Bumm“ hören kann, entgegengehalten, dass auch das Abbeißen von einer Möhre bei verschlossenen Ohren ziemlich laut sei. Nun, die interessante Frage ist: Hört man die Möhre dann auch am Fuß? Dass man ein Event, das am Kopf stattfindet, am Kopf deutlich hörbar ist, ist selbstverständlich. Interessant ist, dass die Ferse doch etwas weiter weg von Kopf ist und dass eben dieses Geräusch beim Aufsetzten über den Vorfuß nicht entsteht. Aber vielleicht müsste man da eine Studie zu machen :-)
Wie bereits erwähnt, übertragen viele der zitierten Studien die Schlüsse, die hier aus einem Laborumfeld gezogen werden, auch auf das Laufen. Laufen müsste demzufolge also auch über die Ferse erfolgen. Hier wird dann aber eine andere Studie herangezogen, die das Modell des Autors bestätigt. Gehen – Ferse und Laufen – Vorfuß. Interessanterweise wurden für diese Studie echte Vorfußläufer herangezogen :-) Die Studien werden also – wie so häufig in derartigen Publikationen – so kombiniert, dass das eigene Modell der Welt bestätigt wird – auch wenn die Studien sich untereinander durchaus widersprechen. Letztendlich ist das Laufen über den Vorfuß – betrachtet man die Anzahl der Studien – ebenfalls eine Außenseitermeinung und deutlich mehr Studien belegen das Laufen über die Ferse, so dass es sogar in der modernen (gruseligen) Robotik genutzt wird. So „hart“ möchte sicher auch der Kollege nicht über die Ferse auftreten :) (Der Roboter, der zum Anfang des Clips flächig mit dem Fuß aufsetzt, ist da irgendwie eleganter :-))
Wer selbst studiert hat und den wissenschaftlichen Prozess kennt, der weiß, dass Studien eben keine unantastbare Wahrheit sind, komplexe Dinge oft sehr vereinfachen müssen, um überhaupt Ergebnisse liefern zu können, und dadurch eben nur ein Modell liefern können. Zudem gibt es das bekannte Problem, dass der Studienaufbau oft unbewusst so gewählt wird, dass die Ausgangshypothese bestätigt wird und Studien zudem zum Teil komplett durch das „Wunschergebnis“ der die Studie finanzierenden Auftraggeber beeinflusst werden. Trotzdem sind weite Teile der Sport-, Physio- oder Medizinwelt absolut studienhörig. Dass die Ergebnisse oft Jahre oder Jahrzehnte später revidiert werden – wer erinnert sich nicht an den Kommafehler, der über Jahrzehnte Spinat zu einem eisenreichen Nahrungsmittel machte – ist dabei egal, wenn es darum geht alles zu verurteilen, was aktuell noch nicht durch eine Studie belegt ist.
Vor über 10 Jahren begann ich mit Faszien zu arbeiten. Methoden wie das Rolfing, das Rebalancing oder die Osteopathie tun das bereits seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ich erinnere mich noch wie das Thema diffamiert wurde. Positive Ergebnisse konnten nicht mehr als Mummenschanz und Scharlatanerie sein, denn es gab ja keine Studien, die diese Ergebnisse belegen konnten. Ein Ergebnis existiert ja nur, wenn eine Studie existiert. Das gleiche Thema findet man im Bereich der Akkupunktur, die lange Zeit als absolutes Hirngespinst abgetan wurde oder Hypnose, die reine Zauberei war. Und heute? Kaum gibt es eine handvoll Studien, schon kaufen Therapeuten Fazer und Faszientools für lachhaft teure Beträge, werden Faszienspezialisten und bieten Faszienfiness an. Jeder zweite Arzt bietet heute Akkupunktur an und über Lobbyarbeit wird sogar versucht dieses lukrative Anwendungsfeld ausschließlich Ärzten zugänglich zu machen und dabei gleichzeitig zum Teil langjährige TCMler mit Ausbildung in China aus dem Markt zu drängen. Das gleiche gilt für Hypnose, die jahrzehntelang reiner Blödsinn war. Gibt es jedoch eine Studie dazu, dann ist diese Methodik plötzlich so potent, dass man am liebsten nur Ärzte und Heilpraktiker damit arbeiten lassen möchte. Die Frage jedoch ist: Haben diese Methoden vor den Studien schlechter funktioniert? Wahrscheinlich nicht. Wissenschaftliche Studien müssen somit kein Beleg dafür sein ob etwas funktioniert oder nicht :-)
Wissenschaftliche Studien empfehlen übrigens eine Sitzposition als besonders „energiesparend“ bei der jeder Körpertherapeut sofort Ausschlag bekommt. Aber wie kann das sein? Nun, wer dient denn als Ausgangsobjekt? Während es kleinen Kindern noch mühelos leicht fällt, gerade zu sitzen, ist das für die meisten Erwachsenen aufgrund diverser Verkürzungen der Front sehr anstrengend. Für diese Menschen ist eine „Liegehaltung“ mit anlehnen natürlich „angenehmer“. Dadurch wird sie funktional aber nicht richtiger und sorgt tatsächlich für allerlei Folgeprobleme. Man kann also gleichermaßen grübeln, ob nicht die „Baseline“ solcher Studien oft bereits fraglich ist. Zitat „Zudem zeigen aktuelle Messungen, dass wir unsere Wirbelsäule mehr belasten, wenn wir angespannt aufrecht auf dem Hocker balancieren als wenn wir uns lässig in den Sessel kuscheln. Besonders schonend ist nach neuen Erkenntnissen eine entspannt zurückgelehnte Sitzhaltung, bei der Knie und Oberkörper etwa einen 135-Grad-Winkel bilden.“ (Darüber hinaus könnten wir diskutieren, ob wir überhaupt sitzen oder eher hocken sollten. Anderes Thema)
So machen es die Experten Bildquelle Eltern.de
Eine Klientin berichtete mir einmal, dass Kleiderpuppen alle sechs Jahre erneuert würden. Dazu vermisst ein Institut einige hundert Menschen und aus der Schnittmenge dieser „Körperhaltungen“ wird dann die neue Puppe. Da die Menschen immer mehr sitzen und krummer werden, werden diese Puppen natürlich auch immer krummer, wie ihr auffiel, geben aber die „Norm“ für unsere Bekleidung vor. Wer das nicht glaub, der möge sich in ein Kaufhaus seiner Wahl begeben und ein paar Schaufensterpuppen anschauen. Ziemlich therapiebedürftig diese Gesellen.
Wie schwammig Wissenschaft tatsächlich ist, zeigt Rupert Sheldrake in diesem sehr amüsanten Vortrag über „Konstanten in der Wissenschaft“. Wissenschaftler wissen das übrigens und sind durchaus bereit ihre Welt offen zu halten und weiter zu forschen.
Auch das „Gehen“ ist eine schwammige Angelegenheit. Natürlich gibt es Situationen in denen es unproblematisch ist, über die Ferse aufzusetzen. Auch ich tue das gelegentlich, zum Beispiel, wenn ich einen Vortrag halte und beim Sprechen mein Gewicht hin und her verlagere. Möglicherweise ist es auch unproblematisch, wenn man in einem sehr langsamen Tempo auf ebenem und „gefegtem“ Untergrund geht. Möglicherweise. Aber dieses „schluderige Gehen“ wie ich es nenne, machen die Menschen ja mehr oder weniger eh. Das achtsame, leichte und leise Gehen, dass wir als Menschen auf der Jagd oder auf unbekanntem Terrain über Jahrtausende immer genutzt haben, ist jedoch durch Schuhe und Sozialisierung komplett verschwunden.
Schritte sind viel größer als sie in der Natur wären, das Tempo viel höher ohne jedoch zu laufen wodurch der Oberkörper oft nach hinten lehnt und die Statik zerschießt. Dazu ist der Körper der meisten Büro- und Fitnesshengste dermaßen aus dem Lot, dass vor lauter Dysbalancen und Verkürzungen ständig kompensiert und „gemacht“ werden muss. Behält man all das bei und versucht lediglich den Fuß anders aufzusetzen, dann gebe ich meinem Kollegen recht, wenn er das für problematisch hält. Das hat jedoch auch wenig mit Vorfußgehen zu tun.
Da dieses achtsame Gehen, das eben doch eins unser natürlichsten und präferierten Muster ist, durch ein komplett künstliches und unnatürliches Umfeld komplett verschwunden ist, ist es um so wichtiger, Menschen diese Art der Fortbewegung wieder näher zu bringen.
Vielleicht ist es manchmal ratsam, dem eigenen Körper zu folgen, zu spüren, zu spielen und so selbst zu seinen Ergebnissen zu kommen anstatt die eigene Realität ausschließlich auf Studienergebnissen zu basieren, die ggf. in zwei Jahren wieder widerlegt werden ;) Für mich sind Beispiele wie Mick Dodge, die „den Beweis leben“ relevanter als jeder Wissenschaftler, der sich rein theoretisch unter Laborbedingungen einem Thema widmet. Aber hey :-) mein Modell der Welt.
Und vielleicht sollte man den Meinungen und Ergebnisse von Kollegen, die keine Studien dazu haben, einfach ein wenig mehr Toleranz schenken, denn wer weiß: Die nächste Studie kommt bestimmt ;-)
Frohes neues Jahr :-)
Nachtrag:
Auch heute entdeckt die Wissenschaft übrigens noch neue Organe im menschlichen Körper (Link) Auch wenn diese Struktur bereits vom großen Universalgenie Leonardo beschrieben wurde, wurden diese Ergebnisse Jahrhundertelang nicht anerkannt. Millionen von Ärzten und Wissenschaftlern lernten, dass es sich lediglich um eine Darmfalte handeln würde. Jetzt doch: Organ. Man hat allerdings noch überhaupt keine Ahnung was es macht :-) Theoretisch könnte diese Erkenntnis die Funktionsweise des Darms, wie wir sie kennen, komplett über den Haufen werfen. Die meisten Studien zu diesem Thema wären somit auf einen Schlag hinfällig. Vorsicht also mit der Religion Wissenschaft :) Sie ist sehr variabel über die Zeit gesehen ;-)
P.S.: Mehr Ballengang bekommst du hier (klicken)